Meine Freundin Yuri sagt, Tokio sei ’nur‘ die Hauptstadt. Sie wohnt in Yokohama und studiert in Kyoto. Es ist, als fürchte sie, der ausländische Besucher könne die Mega-Metropole leichtfertig mit ganz Japan gleichsetzen, obwohl in ihrem Großraum fast ein Viertel der 120 Millionen Japaner leben. Eines der größten Ballungszentren der Welt. Andere Städte seien schöner, traditionsreicher, ja, japanischer. Ich will das gerne glauben und verspreche ihr, bei meiner nächsten Japanreise mehr zu besichtigen als die Hauptstadt allein, und doch habe ich bei der Abreise das Gefühl, ein Stück des echten Japans kennengelernt zu haben.

Vielleicht sind es die Menschen, die das echte Japan ausmachen, und die es in Tokio genauso gibt wie anderswo im Land. Vielleicht die vielen Kleinigkeiten, des Alltags, die dem Fremden auffallen und für den Einheimischen zu selbstverständlich sind. Und die Hauptstadt ist mehr, sie ist der kompromisslose Aufbruch in die Zukunft, ein Aufbruch ohne Rücksicht auf Kosten irgendwelcher Art, ein Aufbruch in eine Zukunft, die auch ein bisschen unsere eigene Zukunft sein könnte.

Ein Begriff, den man mit Tokio spontan verbindet, ist ‚Urbanität‘. Tokio ist Stadt, nur Stadt, endlose Stadt. Eine Stadt, in der Natur nichts zu suchen hat, der vielen Parks zum Trotz, engster Raum in allen drei Dimensionen bebaut. Ein Raum, der mit Zahlen und Buchstaben katalogisiert wird und nur so dem Menschen Orientierung ermöglicht, Nummern von Straßenblocks, die Stockwerke der Hochhäuser oberhalb und unterhalb der Oberflächenlinie, die Stationen der U-Bahn. Tokio ist Science-Fiction. Fünfzig Stockwerke hohe Glaspaläste, die in einem der aktivsten Erdbebengebiete der Welt stehen. Neueste erdbebensichere Bauweise: Stoßdämpfer, Gegenwichte, Rigid Frame. Und darin Fenster, die von der Decke bis zum Boden reichen, und einen Blick auf ein Häusermeer freigeben, durch das nur die Eisenbahn ihre Schneisen schlägt. Aus der Höhe sieht sogar der Shinkansen, der erste Hochgeschwindigkeitszug der Welt, wie ein lautloses Spielzeug aus. Die neuen Stadtteile, Hochhausagglomerationen, die aus einem halben Dutzend oder mehr Türmen bestehen: Shinjuku, Marunouchi, Minato, Shidome… Und dazwischen, etwas verloren, der Tokio-Tower, ein Nachbau der Eiffelturms aus den 50er Jahren, der von der Größe, und nur von dieser, sein Vorbild in den Schatten stellt. Unter den Türmen kilometerweite Passagen, die sich zu den Hauseingängen verzweigen, zu den Bahnhöfen der U- und S-Bahn, der Eisenbahn, eine verwirrende Anzahl von Strecken unterschiedlicher Nahverkehrssysteme. Verwirrend, aber effizient bis zur Perfektion. Dazwischen die aus aller Welt bekannten Passagen, unterirdische Geschäfte, Restaurants, Imbisse. Aber auch hier steht einiges leer, werden die Gänge in den späten Abendstunden zu Geisterorten. 

Und doch fühlt man sich immer und überall sicher. Das liegt zum einen an den Japanern selbst, denen Aggressionen fremd scheinen und die jederzeit freundlich, höflich und höchst diszipliniert auftreten. Kein Fremder, der argwöhnisch beäugt wird oder überhaupt Aufmerksamkeit erregt. Höchstens ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln. Dabei gibt es wenige ausländische Touristen und kaum Weiße auf der Straße. Tokio scheint kein internationales Touristenziel zu sein.

Für die Sicherheit sorgen auch die unzähligen Beobachtungskameras. Kein Winkel, der nicht unter die Lupe genommen wird, unzählige kleine Glaskuppeln an den Decken, in denen sich die Objektive drehen. Erstaunlich, wie wenig die Wirklichkeit gewordenen Orwellschen Visionen die Menschen zu berühren scheinen, geschweige denn, dass sie Empörung auslösen würden. Vor jedem größeren Gebäude steht ein Uniformierter, Tag und Nacht unbeweglich wie eine Englische Wache. Allgegenwärtig die Ordnungskräfte oder die Angestellten der Verkehrsbetriebe, der Wachfirmen.

Es bleibt unklar, ob dem allgegenwärtigen Schutz eine reale Bedrohung gegenübersteht. Aber vielleicht ist es nur eine Frage der Sicherheitsphilosophie, eine Sicherheitsphilosophie, die die Schweiz als Hochrisikogebiet und Deutschland als Entwicklungsland aussehen lässt. Zwischen den Rolltreppen in den Kaufhäusern sind Netze gespannt, um mutwillig oder versehentlich Fallende aufzufangen. Jede begehbare Stelle, die sich über drei Meter Bodenhöhe emporschwingt, wird bis in Kopfhöhe mit Plexiglas abgesichert. Keine Gleise ohne Sicherheitszäune, kein Laufteppich ohne Nothalteknöpfe, die sich alle fünf Meter finden. Der Sicherheitsgedanke ist allgegenwärtig bis im kleinsten Detail.

Auch in andere Hinsicht erscheint der Westen wie ein Entwicklungsland. Es ist viel über die Hygiene in Japan geschrieben worden, über die hochtechnisierten Toiletten, die Spülungen mit variablem Strahl, Druck und Winkel ermöglichen, Spülungen der beteiligten Körperteile wohlgemerkt und nicht Spülungen in unserem Sinne. Bereits im Hotel fängt es an. So werden nicht nur die Handtücher, sondern auch die Bettlaken und sogar die bereitliegenden Nachthemden täglich gewechselt. Im Bad stehen Einmalzahnbürsten, Einmalrasierer und sogar Einmalkämme und -bürsten bereit.

Bemerkenswert sind aber die öffentlichen Toiletten, die es im Überfluss gibt. In einer Zeit, in der wir uns daran gewöhnt haben, kommerzielle Erleichterungsfabriken durch chromblitzende Drehkreuze zu betreten, laden japanischen Bedürfnisanstalten im zeitlosen Charme der klassischen Bahnhofstoilette, aber mit einer über jeden Zweifel erhabenen Hygiene, ein. Ein Novum für uns sind Papiermanschetten, die man kostenlos einem Automaten entnehmen kann, um sie über den Toilettensitz zu legen.

Dennoch verirren sich nur wenige Japaner in diese Etablissements. Vielleicht liegt es an den fehlenden Touristen oder daran, dass der typische Angestellte stets durch die langen Gänge der unterirdischen Passagen zu hasten scheint, auf dem Weg nach Hause oder in den nächsten Imbiss, die nächste Kneipe, um mit Kollegen und Freunden den Arbeitstag ausklingen zu lassen. Deshalb sind die städtischen Zentren bereits früh verwaist. Niemand, der von Zuhause erneut in die Stadt fahren würde. Zu weit sind die Wege selbst mit dem effizientesten Verkehrssystem der Welt.

Bereits um 21 oder spätestens um 22 Uhr heißt es allerorten ‚last order‘. Pech für den, der sich mit mediterraner Leichtfertigkeit später auf die Suche nach einem Esslokal macht. Nicht einmal McDonalds hat dann noch auf. Entsprechend leer ist es dann am Wochenende. Als ich einen Tisch in einem übervollen Restaurant reserviere, weist mich mein Gegenüber freundlich, aber erstaunt darauf hin, dass es sich bei dem betreffenden Tag  um einen Samstag handele. Und tatsächlich sitzen wir dann alleine in einem Gastraum, der noch am Tag zuvor aus allen Nähten platzte.

Überhaupt das Essen. Auf der einen Seite eine unübersehbare Anzahl westlicher Fast-Food-Läden, Starbucks, Subways, Burger und Hähnchenbrater aller Art. Auf der anderen die höchste Konzentration Gourmetgastronomie der Welt. Allein in Tokio gibt es über 260 Michelin-Sternerestaurants (davon elf mit drei Sternen). Mehr als in ganz Deutschland. In der Ginza, auf engstem Raum, sind es über 30. Manchmal mehrere davon im gleichen Gebäude. Und natürlich haben auch die französischen Großmeister hier ihre Dependancen:  Ducasse, Robuchon, Haeberlin…

Aber das Essen ist teuer, die Sterne unerschwinglich. Kaum ein Menu unter 150 Euro. Nachdem der Yen einen neuen historischen Höchststand gegenüber dem Euro erreicht hat, liegen die Ausgaben für Drinks, für Mittag- oder Abendessen etwa bei Doppelten des Gewohnten. Wieder einmal wird Tokio seinem Ruf gerecht, die teuerste Stadt der Welt zu sein. Aber selbst die Einheimischen scheinen zu sparen. Junge Männer, die ihre Angebetete einladen und mit umgerechnet 20 Euro auskommen, einsame Geschäftsleute vor einen Topf Nudelsuppe. Am billigsten sind die suspekten Buden in den Katakomben der Hochhausbasements. Hier gibt es einen Teller Nudeln oder Gemüse schon für fünf Euro.

Wer kein Japanisch versteht, kann sich an den Bildern der Speisekarten orientieren, an den grellen farbigen Postern in den Schaufenstern der Lokale oder an kunstvollen Plastiken, die die Gerichte wirklichkeitsgetreu wiederzugeben versprechen. Überall steht der Preis dabei. Gesetzlich vorgeschrieben ist auch die Angabe der aufzunehmenden Kalorienmenge. So erfahren wir, dass ein Subway-Brötchen nur 300 bis 400 Kalorien hat und ein Teller Nudelsuppe mit Fleischeinlage gut 1100.

Natürlich wird mit Stäbchen gegessen. Westliches Besteck gibt es nur in besseren Restaurants. Wer damit nicht zurechtkommt, muss verhungern oder die Finger zu Hilfe nehmen, was keineswegs auf Beachtung oder gar Ablehnung stößt. Aber es ist gar nicht so schwer. Bereits nach einer Viertelstunde kommt man mit dem ungewohnten Essgeschirr zurecht, besonders dann, wenn man es den Einheimischen gleichtut und sich dicht über den Teller gebeugt dessen Inhalt mehr oder weniger elegant in den Mund schiebt. Ein Erfolgserlebnis, das manchmal zum vorschnellen Entschluss verführt, fortan nur noch Essstäbchen zu benutzen, zumindest wenn es um japanisches, chinesisches oder indisches Essen geht.

Selbst in den Tiefen der ultramodernen Hochhausbauten – oder in ihren obersten Stockwerken, dort, wo die Sky-View-Restaurants beheimatet sind – stößt man auf allerlei kulinarische Merkwürdigkeiten, die den traditionellen europäischen, meist vorsichtigen Esser erstaunen und manchmal verstören. Auch wenn es sich hierbei nicht um die gefürchteten chinesischen Schlangen, Hunde oder Affen handelt, so findet sich allerlei Ungewohntes: Meeresgetier aller Art, Innereien, von denen man nicht einmal den Namen kennt, Körperteile von Tieren, die man bisher vergeblich auf Speisekarten gesucht hätte, hätte man sie suchen wollen. So wird auch der experimentierfreudige oder wenig empfindliche Europäer zuweilen auf eine harte Probe gestellt. Aber für den ganz Vorsichtigen gibt es ja noch McDonalds, und man staunt, wie gut ein Hamburger schmecken kann, wenn er aus wirklich gutem Fleisch gemacht wird.

Eine weitere japanische gastronomische Eigenart, die sich zu erwähnen lohnt: Überall wird kostenlos Wasser zum Essen gereicht, sehr gutes, gekühltes Wasser und natürlich grüner Tee. Kein Essen, das ohne eine Tasse ausklingen darf. Wer aber zum Essen ein Bier trinken möchte, befindet sich in guter Gesellschaft. Die meisten japanischen Männer haben abends ein Bier auf dem Tisch stehen. Das einheimische Bier ist trinkbar, und wer sich etwas Besonderes gönnen will, greift zum einem echt italienischen Nastro Azzurro oder einer ebenfalls italienischen Flasche Peroni. Irgendwie haben sie es geschafft, hier (und in vielen anderen Ländern der Welt) Kultstatus zu erlangen.

Überhaupt scheint die Begeisterung für europäische Produkte in Japan grenzenlos zu sein. Kein Kaufhaus, das nicht eine Sonderausstellung anbieten würde, und so pilgern die japanischen Hausfrauen ehrfürchtig durch lange Regale mit französischen Weinen oder Käsesorten, venezianischem Glasobjekten oder sizilianischem Gebäck. Am meisten scheint es ihnen tatsächlich Italien angetan zu haben, Venedig insbesondere. Überall gibt es ‚original‘ italienische Spaghetterie, Pizzerien, Eisdielen. In den schicken Läden der Ginza häufen sie italienische Schuhe, Taschen, Kleider, Röcke, Blusen und natürlich Möbel.

Während die Männer eine Art Arbeitsuniform zu tragen scheinen, schwarze Hose und weißes halbärmliges Hemd im Sommer, schwarzer Anzug bei Temperaturen unter 30 Grad, führen die Frauen die ganze Vielfalt der Möglichkeiten vor. Viele tragen sehr kurze Röcke und Hosen, dünne Tops und Flatterhemde, Leggins mit durchsichtigen langen Röcken darüber, aber auch seriösere Arbeitskleidung wie Hosenanzüge und Kostüme. Die meisten trippeln auf schwindelerregend hohen Stöckelschuhen einher, je kleiner die Frau desto höher der Absatz. Eine 140 oder 150 Zentimeter große Frau ist hier nicht ungewöhnlich klein.

Trotz der aufreizenden Aufmachung der Frauen ist die japanische Gesellschaft weniger sexualisiert als die westliche. Das sieht man an der Werbung, aber auch am alltäglichen Umgang der Geschlechter miteinander. Während gleichgeschlechtliche Personen, ob sie sich kennen oder nicht, für unsere Verhältnisse recht distanzlos miteinander umgehen – so kann es vorkommen, dass in der U-Bahn Männer Kopf an Kopf oder Kopf an Schulter nebeneinander schlafen – herrscht zwischen den Geschlechtern sorgsam eingehaltener Abstand, sieht man von den auch in Tokio nicht unbekannten Gestalten ab, die die übervollen U-Bahnen nutzen, um Frauen zu bedrängen oder zu begrabschen. Geflirtet wird nicht. Niemand wird angestiert oder länger als unbedingt nötig angesehen. Und das tut uns Ausländern gut. Wir schwimmen in der Menge mit, als seien wir ein Teil von ihr, niemals haben wir das Gefühl aufzufallen, anders zu sein.

Während Japaner in Gesellschaft recht ausgelassen erscheinen, laut reden und viel lachen – das gilt insbesondere für Frauen und Mädchen – herrscht in der anonymen Öffentlichkeit vollständige Funkstille. Keine zufälligen Gespräche, gegenseitige Fragen oder dahin geworfene Bemerkungen, keine nonverbale Kommunikation jedweder Art. Jeder ist für sich. Viele schlafen, wenn sie sitzen, oder schließen zumindest die Augen. Die anderen lesen – Bücher oft – oder starren in ihr Mobiltelefon. Besonders Jüngere halten ihre Geräte aufgeklappt vor sich, viele spielen darauf. Es gibt auch zahlreiche tragbare Spielekonsolen, die selbst im Gehen eifrig bedient werden. Dennoch bewegen sie die Massen meistens mit spielerischer Leichtigkeit, man stößt nicht zusammen, jeder scheint mir einem kurzen Blick erfasst zu haben, wohin der andere zu laufen gedenkt. Nur wir Touristen haben Mühe, uns im Gewühl zurechtzufinden und Kollisionen zu vermeiden. Links zu gehen hilft. Auf den Rolltreppen, links zu stehen.

Tokioter Straßen sind laut und bunt, so wie es in Tokio überall laut und bunt ist. An den Häusern hängen riesige Werbeplakate, die sie wie Litfaßsäulen erscheinen lassen. Oft sieht man auch große Bildschirme, die man sonst nur vom Piccadilly Circus oder Time Square her kennt. Vor fast jedem Lokal steht jemand, der Kunden anlocken will, eine Plastiktafel in der Hand hält, einen Flyer.

Die Drücker rufen, schreien, bleiben aber immer überaus höflich, Ausländer werden fast nie angesprochen. Aus vielen Geschäften dröhnt Musik. Die Großbildschirme sprechen, die Ampeln fiepen, in den U-Bahnen ertönen ganze Romane in verschiedenen Sprachen, die von Werbung unterbrochen werden, während sich die Türen piepsend öffnen und schließen, und selbst die Vögel und Zikaden in den Parks gehen durch Mark und Bein. Jedes Fotografieren und Schreiben wird Tokio nicht gerecht. Ohne diese immerwährende Beschallung, ohne diese Geräuschkulisse bleibt Tokio nur ein blasses Abziehbild seiner selbst.

Im Ginza-Viertel ist alles eine Nummer eleganter, festlicher, fast ein wenig ruhiger. Am späten Nachmittag füllen sich die Straßen. Auf den Bürgersteigen endlose Menschenströme, auf den Straßen die Autos, die sich langsam zum üblichen Feierabendchaos verdichten. Umschaltende Ampeln, die ausnahmslos von jedem beachtet werden, Die Restaurants in den ersten und zweiten Etagen, die öffnen, deren Fenster eines nach dem anderen aufleuchten. Viele gehen nach Hause oder bummeln, aber es gibt keine Straßencafés, nichts wo man verweilen könnte, nur eine gelegentliche Bank oder ein Stein, auf dem man sitzen kann. Wer stehen bleibt, zieht eine Wasserflasche aus dem Automaten und setzt sich auf einen Vorsprung, beobachtet die  Menge, die mit jeder Ampelschaltung über die Zebrastreifen pulsiert.

Es fällt auf, dass kaum jemand eine Einkaufstasche oder -tüte trägt. Keine mit Einkäufen schwer beladenen Menschen. Auch die Geschäfte selbst sind eher leer. Der einzige übervolle Laden, den wir gesehen haben, war ein Discounter für Damenbekleidung. So seltsam es klingt, in keinem der Geschäfte, in denen wir waren, haben wir Menschen an den Kassen gesehen. Das mag daran liegen, dass die Kassen stets so besetzt sind, dass sich keine Schlangen bilden, manchmal werden die Kunden sogar direkt bei der Ware bedient, und dort wird auch umsichtig und unauffällig abkassiert. Dennoch geht mir bei diesem Anblick der Zustand der japanischen Wirtschaft durch den Kopf. Jahrelange deflationäre Entwicklung, allgemeine Kaufzurückhaltung. Selbst in den weltberühmten Kaufhäusern der Ginza und den riesigen Elektronikläden von Electric City in Akihabara ist diese Krise fast mit Händen zu greifen.

Kaufwillige Kunden haben wir dann dennoch getroffen. In einer dreistöckigen Einkaufsmall in Odaiba, einer künstlichen Insel in der Bucht von Tokio. Dort zwischen einer Toyota-Auto-Erlebniswelt für die Männer und einem Vergnügungspark für die Kinder – nebst 130 Meter hohem Riesenrad – befindet sich die Mall Venus Fort. 130 Modegeschäfte für die Frau, einschließlich einiger Factory Outlets. Am Eingang der Mall stehen freundliche Damen, die Lagepläne verteilen, damit sich niemand in dem Gewirr der Gassen verirrt. Das Einkaufszentrum ist einer italienischen Kleinstadt nachempfunden, hat Häuserfronten aus Pappmaché mit Säulen, Bögen und Statuen und einer halben Kirche. Die Straßen sind gepflastert, auf einigen Plätzen sprudeln große Brunnen, vor denen sich die Besucher fotografieren lassen. Aber das Beste ist der Himmel, ein ebenso künstlicher Himmel, der beleuchtet wird und zunächst fast unheimlich wirkt mit seinen Wolken und seinem zu dunklen Blau. Nicht ganz so imposant wie das Venetian in Las Vegas, aber dennoch beeindruckend. Wir essen ein original italienisches Eis im Portofino, es ist eine zusammengerollte Crèpe mit Früchten.

Später im Flugzeug gehören wir, wie auf dem Hinflug, zu den wenigen Nicht-Japanern in der Maschine. Die tägliche Lufthansa-Verbindung nach Narita wurde nicht für deutsche Touristen oder Geschäftsleute eingerichtet, so ahnen wir. Wir finden das ein wenig schade. Es ist ’nur‘ die Hauptstadt, wie meine Freundin Yuri sagt, aber es ist auch Japan, und es ist auch ein bisschen das, was wir selbst eines Tages sein könnten.