Neufassung 2022
- Buch, 1. Kapitel
Noch vor dem Abendessen, das es den heimischen Sitten gemäß nicht vor 20 Uhr geben sollte, trieb es ihn ans Meer. Er ging die Straße hinunter einfach der Junisonne entgegen, die noch hoch im Westen stand, und während er die wenigen Meter bis zur Verladestation zurücklegte, dachte er an die Ostsee zurück, an die Nordsee, an die Meere seiner Kindheit und Jugend, an einen Landschulheimaufenthalt in St. Peter Ording, und ihm schien, sein Herz klopfe genauso laut wie damals mit fünfzehn im ersten Kriegswinter, in jenem Kriegswinter, den es eigentlich nicht hätte geben sollen, so kurz sollte der Krieg werden, in den er seinen Bruder neidisch hatte ziehen lassen müssen. Hella mit ihren blonden Zöpfen fiel ihm ein. Die stumme Hella, die jeden Abend vor dem Haus Wiking auf ihn zu warten schien, eine streng, eine abweisend dreinblickende Hella, die er erst am letzten Abend anzusprechen gewagt hatte. Hella, was hätte aus uns werden können, dachte er zum wer weiß wievielten Male und fragte sich, ob auch hier eine andere Hella, eine Maria oder Eva oder Julia auf ihn wartete.
Schon nach wenigen Schritten kam er ins Schwitzen, und er wünschte sich, er hätte etwas Leichteres angezogen, den hellen Leinenanzug beispielsweise, den er sich bei Schürmanns für diese Reise hatte schneidern lassen. Dazu kam der Staub, den er aufwirbelte, der im Abendwind über die Straße trieb und seine dunklen Schuhe mit einer feinen Schicht überzog.
Gleich neben der Straße war das Gleis einer Schmalspurbahn. Auch dieses führte wie die Straße selbst geradewegs auf den hölzernen Anlegesteg der Verladestation hinaus. Heute, am Sonntag, war niemand zu sehen, nur ein paar Fischer saßen auf dem hintersten Rand der Plattform und hielten ihre Angeln in das leise gegen die Stützpfeiler schlagende Wasser. Auch er ging zum Ende der Landungsbrücke, ging über die grauen Eichenbohlen, um dann zurückzublicken zum Strand.
So wenig der Steg selbst mit den Stegen der mondänen Bäder der Ostsee gemein hatte, so wenig ließ auch der Blick auf den Strand Urlaubstimmung aufkommen. Auch wenn es tatsächlich Sand gab, einen fast einhundert Meter breiten Streifen, überall standen Wagen, niedere Pritschenwagen zumeist mit eisenbeschlagenen Rädern, türmten sich Hölzer, verrotteten allerlei Gerätschaften in der salzigen Luft. Und auch die Kräne, die Flaschenzüge, die rostig in den Himmel ragten, ließen eher an einen kleinen Industriehafen denken als an den Strand von Portoclemente, einen der bekanntesten italienischen Badeorte.
Gleichgültig womit, es wäre an diesem Tag unmöglich gewesen, seine Abenteuerlust zu dämpfen. Zum ersten Mal seit Jahren ließ er sich von ihr davon treiben, und die Angst, die ihn vorher ein ums andere Mal zurückgeholt hatte, schien verschwunden. Nur Georg durchstreifte noch seine Träume, als habe er ein Recht darauf, lebenslang. Dass ihn der Anblick der einfachen Hafenanlage nicht ernüchterte, lag aber auch an das, was dort verladen wurde: Marmor!
Rechts und links der Straße, am Strand, auf den flachen Dünen dahinter bis hinauf zu den ersten Häusern des Dorfes, überall standen, mal in Reih und Glied, mal scheinbar willkürlich verteilt, die Blöcke. Quader, Würfel, dicke Platten, in große Holzkisten verpackt oder einfach auf Stämmen gebockt, tonnenschweres Gestein, das auf seinen Abtransport in die ganze Welt wartete.
Während das Wasser in das Holz zu seinen Füssen klatschte, starrte er auf diesen merkwürdigen Friedhof, und er stellte sich die Männer vor, wie sie schwitzend an den Tauen zogen, die Ochsen, viele Paare davon vor einem einzigen Quader. Das ständige Kommen und Gehen, die von Schreien und Rufen schwirrende Luft, das Knirschen der zum Zerreißen gespannten Seile und das dumpfe Stöhnen der Tiere. Doch an diesem Tage glich dieses steinerne Feld tatsächlich eher einem Friedhof. Anstatt der Namen und Daten, mit roter Farbe aufgetragene Zahlen und Buchstaben, auch jene unentwirrbaren Hinweise auf Herkunft und Bestimmung.
Als er dann hindurchging, fast ehrfürchtig, hielt er nach dem bekanntesten Stein Ausschau, dem Statuario, dem weißesten, dem makellosesten Marmor, den es gab. Michelangelo hatte daraus seinen David geschlagen und unzählige andere ihre Statuen, Kreuze, Obelisken, und alles, was wertvoll genug schien, aus einem solch reinen Material geschaffen zu werden. Das ‚weiße Gold‘ wurde es genannt, und vielleicht war es tatsächlich so selten geworden, bedrohte ihn die jahrtausendelange Jagd wie ein aussterbendes Tier, denn soweit er auch durch die stillen Reihen schritt, er fand nicht einen einzigen Block. Sicher, es gab weißen Marmor, den billigen Carrara Edilizia zum Beispiel, genannt Nostrano mit seinen feinen grauen Adern, aus dem man Treppenstufen und Fensterbänke machte, auch Waschbecken oder Spülen. Dann gab es den Arabescato Vagli, mit seinen grünlichen Einsprenkelungen, den rosa schimmernden Breccia, der gerade aus der Mode zu kommen begann, den Grigio Argento, den Nuvolato Apuano und den Piastraccia. Unzählige, zutiefst fremd klingende Namen, die er in den nächsten Wochen und Monaten aufschnappen sollte, ohne sie sich alle merken zu können. Doch so ausgefallen die Einschlüsse auch sein mochten, so farbig oder edel sie im polierten Zustand erschienen, die Sulfate und Salze, die Oxide oder um welche chemischen Verbindungen es sich auch handelte, sie waren Verunreinigungen. Nichts konnte es mit dem Statuario aufnehmen.
Schließlich fand er noch einen großen Block Bianco P, gleichfalls ein strahlend weißer Stein, dem allerdings die elfenbeinfarbene Wärme des Originals fehlte.
Er kehrte an den Strand zurück. Nur wenige Meter musste er gehen, um in Sichtweite der ersten Badeanstalten zu kommen. Die Sonnensegel waren schon eingeholt worden. Nur wenige Gäste streckten sich in ihren Liegestühlen der Abendsonne entgegen. Kinder spielten am Wasser, und ein paar hölzerne Boote schaukelten in der ruhigen See. Hatte er noch vorgehabt, sich seiner Kleidung alsbald zu entledigen, um das Meer mit einem schnellen Bad zu begrüßen, setzte er sich scheu ein wenig abseits in den Sand. Er nahm seinen Hut ab, und die schwache Brise, die landwärts zog, strich ihm kühlend durchs Haar. Tief sog er die salzige Luft ein. Langsam und lautstark atmete er wieder aus. Es klang wie ein langer Seufzer.
„Darf ich mich vorstellen, Maximilian von Kampen.“ Er verbeugte sich knapp. „Aus Deutschland“, fügte er unnötigerweise hinzu, denn sein Französisch ließ keinen Zweifel an seiner Herkunft.
Die Pensione Moderna war neueren Datums. Sie war dreistöckig und zweckmäßig gebaut. Nur das Dach und die Gartenanlage ließen Anklänge an den Jugendstil erkennen. Im Hochsommer wurden die Mahlzeiten draußen im vom Wein überrankten Hof eingenommen. Die ersten Juniabende konnten aber frisch werden, und Piero, der Wirt, ließ dann im Aufenthaltsraum decken. Dann schob seine Tochter die Tische zusammen, und die wenigen Gäste aßen und tranken gemeinsam im Licht der flackernden Öllampen bis in die Nacht hinein. Da der Ort sonst wenig Zerstreuungen bot, sah man vom wöchentlichen Tanzabend im nahen Hotel Principe ab, konnte man sich auf die regelmäßige Vollzähligkeit verlassen. Die Pension verfügte über zwölf Zimmer, doch so früh in der Saison war kaum mehr als die Hälfte davon belegt. Als Maximilian an den Tisch trat, zählte er, sich ausgenommen, lediglich acht Gäste.
Die kurze Vorstellungsrunde, die dann folgte, war ein wenig zu steif, und Maximilian argwöhnte, sie machten sich über ihn und seinen kadettenhaften Auftritt lustig. Zum Glück war er nicht der einzige Deutsche. Josef Lindemann kam aus Berlin, und auch er schien, nahm man die Blässe seines Gesichts zum Gradmesser, erst vor kurzem angekommen. Später sollte Maximilian erfahren, dass er eine längere Krankheit hinter sich hatte, und dass sein eingefallenes Äußere die Folge einer gerade überstandenen Schwindsucht war. Auch zwei Frauen saßen in der Runde. Germaine, eine nach der letzten Mode gekleidete und geschminkte Französin, die ihm schelmisch die Hand zum Kuss reichte und offenbar mit dem älteren der russischen Brüder befreundet war, Arkadij, wenn er den Namen richtig verstanden hatte. Dieser lebte im Pariser Exil, während Boris, der Jüngere, ein glühender Anhänger der Lenin’schen Lehren zu sein vorgab. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Nach Italien waren sie gekommen, weil ein Treffen hier beiden am unauffälligsten erschien. Die zweite Frau, Lidia, war Italienerin. Auch sie war in Begleitung ihres Bruders, eines, wie Maximilian fand, aufgeblasenen Gockels, der sich im ersten Satz schon als Dichter vorstellte und damit seine ganze Abneigung auf sich zog. Er hieß Massimo Giacometti. Auffällig nahe bei Lidia saß ein übergewichtiger Amerikaner. Noch während Maximilian am Tisch stand und verlegen die verschiedenen Hände schüttelte, gelang es Scott McInerney seine halbe Lebensgeschichte zu erzählen. Er war schon während des Krieges in Italien gewesen, hatte mehrere Kurzgeschichten über seine Kriegserlebnisse veröffentlicht und wollte in diesem Sommer den großen Kriegsroman vollenden. So drückte er sich jedenfalls aus, und obwohl auch der Amerikaner, zu einer selbstverständlichen Großspurigkeit neigte, war er Maximilian auf Anhieb sympathisch, und so ging es offenbar auch den anderen; einzig der junge Giacometti hob abschätzig die Brauen. Aber vielleicht lag der wahre Grund dafür in Scotts offensichtlichem Interesse für die Schwester.
Der Achte der Gruppe nannte nur seinen Vornamen: Matteo. Er war offenbar auch Italiener, und obwohl er so gut wie nichts von sich preisgab, prägte er sich Maximilian am besten ein. Er war groß und muskulös, hatte dunkles kurz rasiertes Haar und erinnerte, nicht zuletzt wegen des unbewegten, fast finsteren Ausdrucks seines Gesichts, an einen römischen Gladiator, an einen Kämpfer jedenfalls, und Maximilian starrte ihn an, als könne er ihm dadurch mehr entlocken als die wenigen Worte, die langsamen Bewegungen seiner Arbeiterhände.
Alle trugen Abendgarderobe, ohne übertrieben elegant zu erscheinen, sah man von den Damen ab, die eine detailverliebte Sorgfalt in der Auswahl ihrer Accessoires erkennen ließen. Niemand war älter als dreißig, mit Ausnahme von Arkadij vielleicht, in dessen schwarzem Haar silberne Strähnen glitzerten.
In einer Ecke stand ein Klavier, dessen abblätternder Lack in seltsamem Widerspruch zu den verschnörkelten Aufbauten und den vergoldeten Buchstaben stand, daneben ein modernes Grammophon. Es spielte ein Klavierkonzert, das Maximilian nicht kannte.
„Wir gönnen uns den Luxus, jeden Abend die passende Tischmusik zu spielen“, Arkadij, der ältere der russischen Brüder, war seinem Blick gefolgt. „Heute geht sie auf den Wunsch meiner Wenigkeit zurück. Rachmaninov. Dekadent, gewiss“ – er lächelte seinem Bruder zu – „und doch sehr volkstümlich, warten Sie, bis Sie seine Symphonien gehört haben! Aber nehmen Sie doch Platz, mein lieber Maximilian! Es ist Ihnen doch recht, wenn ich Sie mit Vornamen anspreche? Unser amerikanischer Freund hat diese Unsitte bei uns eingeführt, und – stellen Sie sich vor! – sie gefällt uns!“ Er zwinkerte Lidias Bruder zu. „Nicht alle haben einen Adelstitel, an den Sie sich gern erinnern lassen!“
„Sie können mich Max nennen.“ Er wunderte sich über seine Stimme, die seltsam belegt klang, und plötzlich fühlte er sich um Jahre zurückversetzt. Er stand vor seiner neuen Klasse. Mitten im Schuljahr von einem Ende Hamburgs zum anderen gezogen, hatte er sich vorgestellt und einen freien Platz suchen müssen. Sein Blick war durch die Reihen seiner zukünftigen Klassenkameraden gewandert, spöttisch feixende Gesichter, die sich einen Spaß daraus zu machen schienen, ihn zu verunsichern. Einzig ein blasser, fast kindlich wirkender Junge, saß etwas abseits von den anderen und sah durch ihn hindurch. Zu ihm setzte er sich. An diesem Abend hatte er zwei freie Plätze zur Auswahl, und er nahm jenen zwischen Matteo und dem Amerikaner. Anders als Jahre zuvor in der Unterprima, als er sich zu Georg gesetzt hatte, sollte diese Entscheidung weniger folgen-schwer sein. Es gab keine feste Tischordnung, und jeden Abend sorgten andere Tischnachbarn für Abwechslung.
Die Gespräche wurden wieder aufgenommen, und die Aufmerksamkeit, mit der man den Neuankömmling bedacht hatte, war genauso schnell verebbt, als hätte man das Licht auf seiner Tischseite gedämpft, und tatsächlich meinte Maximilian dankbar, in ein wohltuendes Dunkel zu versinken. Man trank Aperitifs und verstummte erst wieder, als Piero in die Hände klatschte, um zu fragen, wer an diesem Tage Fisch oder Fleisch wünsche. Das war die einzige Wahl, die man hatte, sah man vom Obst ab, das nach dem Hauptgang in großzügiger Auswahl aufgetischt wurde, und so besprach man in einiger Ausführlichkeit die Vor- und Nachteile der beiden Gerichte. Maximilian entschied sich für das in Soße gekochte Zicklein.
Doch zuerst gab es Nudeln mit Tomatensoße, den sogenannten primo, und so sollte es jeden Abend sein: spaghetti, spaghettini, didali, farfalle, fusilli, penne und wie sie alle hießen, Namen, die der Form geschuldet waren, wie ihm Laura irgendwann in der Küche erklärte, Schmetterlinge, Federn oder Fingerhüte und was die Fantasie sonst hergab. Zwei große Schüsseln wurden auf den Tisch gestellt, und jeder bediente sich daraus, immer darauf achtend, noch genügend Appetit für den secondo, den eigentlichen Hauptgang, aufzusparen, was angesichts von Pieros Kochkünsten nicht einfach war. Nur freitags gab es Suppe, minestrone zumeist, und dann entfiel auch die Wahl zwischen dem Fisch und dem Fleisch. Zu besonderen Anlässen oder an Feiertagen tischte Piero seine berühmte lasagne auf, dann stöhnte er schon lange vorher, dass eine gute Soße sechs Tage auf dem Feuer köcheln müsse, und er nachts mindestens zwei Mal aufzustehen habe, um sie umzurühren. Da Pieros Frau eine gebürtige Venezianerin war, wurde der toskanische Speiseplan gelegentlich durch polenta, gekochtes Maismehl, und manch einer Spezialität aus ihrer Heimat aufgelockert, Rinderleber mit Zwiebeln etwa. Eine lokale Besonderheit waren die Esskastanien, die vor allem als Mehl in Kuchen, aber auch in vielen anderen Gerichten und sogar beim Brotbacken verwendet wurden.
Je länger das Essen andauerte, desto lebhafter wurden die Gespräche. Auf dem Tisch standen zwei große gläserne Karaffen mit Chianti. Der rote war hell wie ein Rosé, der weiße dunkelgelb, fast rötlich, so dass sie im schwachen Licht kaum zu unterscheiden waren. War der Pegel in einer der Karaffen so weit gefallen, dass ein baldiges Versiegen drohte, beeilte sich jemand hinauszugehen, um sie aus großen Korbflaschen auffüllen zu lassen. Es wurde gelacht und geschrien, und nur selten gelang es jemanden, die Nebengespräche zum Erliegen zu bringen und die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Meistens waren es Andreij oder Scott, die die Runde, wenn auch nur für wenige Minuten, einten. So war es auch, als Arkadij beim ersten Abendessen das Wort an ihn richtete: „Sagen Sie, Max, mit was gedenken eigentlich Sie, die Welt zu beglücken?“
In die plötzliche Stille hinein, erschien ihm sein Räuspern viel zu laut. „Ich verstehe nicht…“
Glücklicherweise wurden in diesem Augenblick die ersten Teller mit dem Hauptgericht hereingebracht, was von lauten Rufen der Freude begleitet wurde und ihm eine Atempause verschaffte. Massimo Giacometti beklagte sich, dass er Fisch statt Fleisch bekommen habe, wogegen seine Schwester unbeirrt behauptete, er habe nichts anderes bestellt. Josef, der auf sein Essen noch wartete, bot an, mit ihm zu tauschen, was Massimo mit der Bemerkung ablehnte, er könne diese Freundlichkeit keinesfalls annehmen. Maximilian starrte auf das dunkle, fast schwarze Fleisch auf seinem Teller. Es roch nach frischem Thymian, und er hatte gerade nach der Gabel gegriffen, als Scott nachsetzte.
„Unser Freund Giacometti hat aus seiner Leidenschaft keinen Hehl gemacht, er ist Dichter.“ Sein Französisch war schlecht, und häufig musste er auf italienische oder gar englische Vokabeln zurückgreifen. „Ich bin, wie Sie wissen, novelist. Gestatten Sie mir, auch die restlichen Laster aufzudecken. Die Dame zu meiner Rechten ist eine einzigartige Pianistin.“ Er verneigte sich vor Lidia, was sie mit einem koketten Lächeln erwiderte. „Germaine dagegen ist Malerin. Paris! Natürlich! Was könnte man dort auch sonst werden? Arkadij dagegen – Russe, wie Sie wissen – ist natürlich Komponist und kein schlechter, glauben Sie mir, kein schlechter. Nun, Boris… Tja, er schreibt, er malt, was man als intellektueller Revolutionär ebenso tut. Alles im Dienst der Arbeiterklasse, versteht sich.“ Die Frauen kicherten, die anderen lächelten amüsiert, und Maximilian fragte sich, wie ernst er Scotts Redeschwall nehmen konnte „Josef ist Architekt oder so was ähnliches, aber das erklärt er Ihnen am besten selbst, und unser stiller Freund Matteo, er ist übrigens ein paar Dörfer von hier geboren, ist Bildhauer. Na ja, als Pianist wäre er auch schlecht durchgegangen.“ Allgemeine Heiterkeit folgte seinen Worten. Scott trank sein Weinglas leer und strich sich über den dunklen Schnurrbart. Er schwitzte und sein Gesicht war gerötet. „Wie Sie sehen, ein illustrer Kreis, in den Sie hineingeraten sind. Also enttäuschen Sie uns nicht!“ Unter der Hand, aber doch so laut, dass es alle hören konnten, fügte er hinzu: „Notfalls erfinden Sie etwas!“
„Ja, Max, verraten Sie uns Ihr kleines Geheimnis“, das war Germaine, und auch die anderen warfen etwas ein, um ihn zu ermuntern.
„Ich… Ich schreibe…“ Wieder wunderte er sich über den Klang seiner Stimme.
Massimo Giacometti rief „Bravo!” und intonierte: „Cosa sono? Sono un poeta! Cosa faccio? Scrivo!” Er klatschte in die Hände: „Bravissino! Man kann es nicht besser ausdrücken: Scrivo! Wussten Sie übrigens, dass Puccini hier geboren wurde. Torre del Lago ist keine halbe Zugstunde entfernt.” Er machte eine Geste in eine unbestimmte Richtung, um dann ernster und mit erhobenem Zeigefinger hinzuzufügen: „So international wir hier sind, vergessen wir nicht, wo wir sind. In Italien! Im kulturellen Zentrum Europas!“ Er reckte das Kinn in die Höhe, und sein schmales Gesicht wurde hart. Mit dem schwarzen zurückgekämmten und pomadisierten Haar glich er für einen Augenblick tatsächlich einem überheblichen Aristokraten. Doch dann lachte er, als habe er nur einen Scherz gemacht, und Arkadij warf beschwichtigend ein: „Rom, Paris, Berlin! Wo stünde heute Europa, hätte es diesen schrecklichen Krieg nicht gegeben!“ Noch bevor Giacometti zu einer Erwiderung ansetzen konnte, fügte er hinzu: „Die Jugend Europas möge fortan ein Vorbild abgeben für das Zusammenleben der Völker. Lasst uns darauf trinken. Auf uns!“
Und da ihm niemand widersprechen wollte oder konnte, hob man die Gläser und beeilte sich, das Thema zu wechseln. Die Runde zerfiel erneut in verschiedene Seitengespräche, nur Maximilian und neben ihm Matteo aßen schweigend zu Ende.
Der restliche Abend wurde mit mehreren Runden Espresso eingeläutet. Dazu gab es Grappa, für die Damen Zitronen- oder Mandellikör. Später, für den Fall, dass sich wider Erwarten erneuter Appetit anmelden sollte, wurden cantuccini und vin santo auf den Tisch gestellt. Das Mandelgebäck wurde in den süßen Likörwein getunkt und half die Stunden zu überbrücken, bis man sich satt und zufrieden, wenn auch ziemlich beschwipst ins Bett legen sollte.
Natürlich war das auch die Stunde des Tabaks, und da Josef und Maximilian die einzigen in der Runde waren, die sich weder Zigaretten noch Zigarillos noch Zigarren noch eine Pfeife nach dem Essen anzuzünden pflegten, der eine auf strenge Anweisung der Ärzte, der andere aus Überzeugung, fanden sie sich zu fortgeschrittener Stunde in einer Ecke des Raumes wieder. Vielleicht hatte auch die gemeinsame Sprache sie zusammengeführt, denn je mehr sie getrunken hatten, umso schwerer war es ihnen gefallen, sich auf Französisch, auf Englisch oder gar auf Italienisch zu unterhalten.
Eine Weile beobachteten sie schweigend die anderen. Das Licht war weiter gedämpft worden, und trotz der weit geöffneten Fenster und Türen standen dünne Rauchschwaden wie Spinnweben im Zimmer. Kein Lüftchen regte sich.
Das Grammophon spielte französische Schlager. Germaine, die mit angezogenen Beinen auf einer Chaiselongue saß, stand immer wieder auf, um eine neue Platte herauszusuchen. Dann strich sie sich den kurzen engen Rock glatt und schob ihre zahlreichen Armreifen hoch. Sie hatte ihre modische Kappe abgelegt, und das dünne blond gefärbte Haar fiel ihr glatt auf die Schultern. Wenn sie nicht gerade vor dem Schrank mit den Schallplatten kniete, zog sie an ihrer goldenen Zigarettenspitze und schien dem hitzigen Gespräch zu folgen, das zwischen den russischen Brüdern entbrannt war. Arkadij, der neben ihr saß, hatte sich nach vorne gebeugt und redete eindringlich auf den jüngeren Bruder ein. Seine Hände waren in ständiger Bewegung, das gelockte Haar, der dichte Vollbart wogten, während er erregt auf seinem Sitz hin und her rutschte. Der jüngere Bruder dagegen hatte sich weit nach hinten gelehnt, und seine durch die runden Brillengläser vergrößerten Augen, hätten ausdruckslos erscheinen können, hätte ein Lid nicht immer wieder heftig gezuckt und dem eher weichen Gesicht eine unterschwellige Spannung verliehen. Ab und an stieß er einen kurzen Satz aus, dann fuhr seine Hand wie zum Schlag durch die Luft, dass Maximilian fürchtete, er könne den Bruder tatsächlich ohrfeigen. Matteo, der noch immer am Tisch saß, trank Wein und rauchte Zigaretten. Er schien sich nicht für die anderen zu interessieren. Nur wenn Germaine sich über den Plattenschrank beugte, sah er kurz auf, wanderte sein Blick zum gespannten Stoff ihres Rockes. Und doch wirkte er in Gedanken woanders, so abwesend spielte seine Hand mit dem Weinglas. Wäre Scott nicht gewesen, der auf dem Weg von der Toilette zurück zu den italienischen Geschwistern ein paar Worte mit ihm wechselte, die Hand auf seine Schulter legte, er hätte wie ein Ausgestoßener gewirkt. Auch Massimo Giacometti schien sich fehl am Platz zu fühlen, doch hielt er standhaft durch, und versuchte, wo immer es ging, sich zwischen der Schwester und dem Amerikaner zu schieben, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, denn jedes Argument nahm er zum Anlass, weitschweifig über dieses und jenes zu schwadronieren, sodass der Amerikaner ihn immer wieder mit einer Bemerkung unterbrechen musste, über die er selbst so schallend lachte, dass alle im Raum aufsahen und Massimo sich ein gequältes Lächeln abrang. Lidia begnügte sich damit, Scott mit langen Blicken zu bedenken und lächelte ansonsten still vor sich hin. Ihr dunkles, halb langes Haar war straff hochgesteckt und ließ einen langen, makellosen Hals und ein strenges Profil sehen. Sie war keine wirkliche Schönheit, doch im fahlen Licht und ihrer Bewegungslosigkeit ähnelte sie einer marmornen Göttin. Scott jedenfalls konnte kaum den Blick von ihr abwenden, und nur das Wissen um die schier endlose Zeit, die ihnen blieb, oder die natürliche Geduld, mit der er gesegnet zu sein schien, ließ ihn freundlich und gelassen den anderen ertragen. Und schließlich war es der Bruder und nicht irgendein Nebenbuhler.
So erschöpft Maximilian von der langen Reise und dem Neuen war, das ihm auf Schritt und Tritt begegnete, so unmöglich machte es ihm die teils freudige, teils ängstliche Spannung, die ihn seit seiner Abreise erfüllte, schon Tage davor sich beständig aufgebaut hatte wie in einem sich aufladenden Kondensator, im Bett die wohlverdiente Ruhe zu suchen. Jedes neue Chanson, das Germaine mit sicherer Hand auswählte, war wie ein geheimnisvolles Versprechen, jedes Gesicht, das er im Halbdunkel ausforschte, jedes der fremdartigen Worte, die die Luft erfüllten, waren der Vorbote kommender Abenteuer. Das war sein Sommer, das spürte er an diesem Abend ganz deutlich, er hatte ihn sich erkämpft gegen den nüchternen Widerstand der Eltern, gegen jenen anderen und schwerer zu überwindenden der Verlobten. Im September würde er zurückkehren und das tun, was man von ihm erwartete, Anne heiraten, die Lektorenstelle im Verlag antreten. Er freute sich darauf, darauf und auf den Gedichtband, den er dann hoffentlich veröffentlichen würde. Sein zukünftiges Leben lag wie ein fertig geschriebenes Buch vor ihm, das eine oder andere Datum musste eingesetzt werden, und es gab Namen, die noch austauschbar waren, Orte sich erst einfinden würden. Doch war sein Leben vorgezeichnet. Das zu wissen, beruhigte ihn an diesem Abend. Was auch immer geschähe, in wenigen Monaten würde er sein eigentliches Leben wieder aufnehmen, und die Zeit in Italien wäre eine Episode, an die er sich erinnern konnte, mehr nicht.
Morgen schon wollte er anfangen, an seinen Gedichten zu arbeiten. Als erstes wollte er dieses Gefühl in Worte fassen, dass ihn an diesem Abend erfüllte, dieses Schweben zwischen dem Alten und dem Neuen. Schon in der übernächsten Woche, so hatte er angeboten, könnte er einige der neuen Gedichte in der Runde vorstellen. Als Arkadij zwischen Käse und Obst den Vorschlag gemacht hatte, im wöchentlichen Wechsel Kostproben ihres künstlerischen Schaffens im kleinen Kreis zur Aufführung zu bringen, einen Salon Jeudi einzurichten, wie er die Veranstaltung ob des Wochentages, an dem sie stattfinden sollte, vollmundig getauft hatte, war die Wahl der Debütierenden zwar spontan auf Lidia gefallen. Schließlich sollten einige italienische Klavierstücke, das hatten sie sich ausdrücklich erbeten, zu ihrem Repertoire gehören und deshalb die geringste Vorbereitung erfordern. Als sich aber dann alle bedeckt hielten, wer als nächster an der Reihe käme, ein Dichter oder Schriftsteller, wie gefordert worden war, um den Proporz der schönen Künste zu wahren, hatte Maximilian sich in ungewohnter Forschheit vorgewagt, mehr zu seinem eigenen Erstaunen als zu jenem der anderen. Dass Massimo Giacometti dieses Vorpreschen nicht gerade erfreut aufnahm, das hatte er erwartet, und möglicherweise war ihm genau dies Ansporn gewesen. Der junge Italiener machte einen halbherzigen Versuch, darauf hinzuweisen, dass einige seiner besten Poeme bereits auf Französisch übersetzt seinen und diese Arbeit somit entfallen könne, was Scott mit dem Hinweis vom Tisch wischte, die Lesungen hätten Werkstattcharakter, und da störe eine gewisse Vorläufigkeit keineswegs, im Gegenteil, er ermutige sogar, Unfertiges vorzustellen.
Josef Lindemann fuhr sich durch den rötlichen Bart. Er blickte in Richtung der offenbar immer noch streitenden Russen, doch glaubte Maximilian, dass er mehr Augen für Germaine hatte als für die ungleichen Brüder.
„Eine interessante Frau“, bemerkte er deshalb, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
„Wer, Germaine?“ Josef sah auf. Er schien in Gedanken weit weg gewesen zu sein, und Maximilian war sich nicht mehr sicher, ob sein Blick tatsächlich der Französin gegolten hatte. „Ja, sie hat Esprit.“ Er schenkte sich Wein nach und trank einen Schluck. Er hatte dunkle Ringe um die tiefsitzenden Augen, und seine durchsichtigen Hände zitterten ein wenig, als er das Glas zum Mund führte. „Ich würde sie natürlich beide nehmen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich wohl dennoch Lidia vorziehen. Ich liebe Italien.“ Schon seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, sei Italienerin gewesen, und so habe auch er italienisches Blut in den Adern. „Wenig, gewiss“ – er fuhr sich verlegen lächelnd durch das rötliche Haar – „Kelten, Normannen, Buren. Viele haben ihren Teil dazu beigetragen. Und doch, Max, glauben Sie mir“ – er klopfte sich ein paar Mal an die Brust – „meinem Herzen hier steht dieses Land näher als jedes andere.“ Das Vaterland natürlich ausgenommen, aber das sei selbstverständlich.
Maximilian, der sich an den morgendlichen Grenzübertritt erinnerte, an das mit Vertrautheit gepaarte Gefühl des Willkommenseins, nickte und schwieg.
„Aber das ist alles graue Theorie…“ Josefs Stimme klang müde, fast traurig. Er sprach langsam, als müsse er lange über jedes Wort nachdenken. „Sie sind zwar erst heute angekommen, aber zweifellos werden auch Sie bemerkt haben, dass die Rollen bereits verteilt sind.“ Als wolle sie seine Worte Lügen strafen, lächelte Germaine just in diesem Augenblick spitzbübisch zu ihnen herüber. Er winkte matt zurück. „Ja, Germaine, du Göttin der Verführung, streife auch mich mit dem Atem der Liebe, berühre meine verlorene Seele…“ Sein Lachen ging in ein langanhaltendes Husten über. „Verzeihen Sie.“
Maximilian, der nicht wusste, was er von diesem seltsamen Ausbruch halten sollte, fragte verlegen, ob noch andere Gäste erwartet würden.
„Kann schon sein, den einen oder den anderen vielleicht.“ Er hob die Hand und starrte darauf, als zähle er angestrengt seine Finger. Dann sah er Maximilian direkt ins Gesicht, und sein Ausdruck verwandelte sich. Fast belustigt sagte er: „Aber ich weiß nicht, ob Männlein oder Weiblein, wenn es das ist, was Sie interessiert.“
Kühl bemerkte Maximilian, dass er verlobt sei und im Herbst zu heiraten gedenke.
Der andere ging nicht weiter darauf ein. Er war wieder ernst geworden und hatte sich von ihm abgewandt. „Laura.“ Mehrmals nickte er vor sich hin. „Das ist wirklich ein verdammt hübsches Mädchen.”
Maximilian, der nicht wusste, von wem die Rede war, fragte, ob sie eine Bekannte oder Freundin in Deutschland sei.
„Sie haben Laura noch nicht gesehen?“ Josef Lindemann lachte laut auf. Seine Stimmungen schienen so wechselhaft wie Aprilwetter. „Sonntag, natürlich! Sie hat heute ihren freien Tag.“ Trocken stellte er fest: „Laura, ist die Tochter des Wirts.“ Und dann schlug er ihm fast fröhlich auf die Schulter und setzte hinzu: „Gehen Sie schnell schlafen! Genießen Sie diese letzte Nacht des Friedens und der Ruhe! Wer weiß, ob Sie das noch können, wenn Sie Laura erst einmal gesehen haben.“