Ich weiß nicht, wann Du diese Zeilen lesen wirst, Laura. Vielleicht wirst Du 12 sein, 14, 16 oder 18. Schwer vorstellbar, aber dann wirst Du eine junge Frau sein, wirst Dich schminken und coole Klamotten tragen, wirst über Jungs schimpfen und doch heimlich nach ihnen schielen. Du weißt gar nicht, wie sehr ich mir wünschte, diese Zeit mitzuerleben, sie zusammen mit Dir zu erleben. Ganz besonders, weil ich weiß, wie schwer es ist, ohne einen Vater aufzuwachsen. Auch ich hatte keinen Vater, als ich so alt war, wie Du dann sein wirst.

Hat Deine Mutter Dich darauf vorbereitet? Ich hoffe es. Was hat sie über mich erzählt? Ist sie immer noch wütend? Wir haben endlose Gespräche geführt, tagelang, wochenlang. Sie hat geweint und geschrien, mich angefleht, manchmal saß sie nur still da und hat die Wand angestarrt, mit weit aufgerissenen Augen, und dann habe auch ich aufgehört zu sprechen und wir haben uns, jeder für sich, die Zukunft ausgemalt. Später wirkte sie fast gefasst, gefasst oder ergeben, dann haben wir die unzähligen Dinge geregelt, die in einer solchen Situation geregelt werden müssen, Verträge durchgesehen, Briefe an Anwälte geschrieben, an Banken und Versicherungen.

Dieser Brief war ihre Idee. Wie soll ich es Laura erzählen, wie kann ich ihr das erklären? hatte sie wiederholt, immer und immer wieder, manchmal leise wie zu sich selbst, manchmal laut und fordernd mit von Vorwurf bebender Stimme. Warum erklärst du ihr es nicht? sagte sie irgendwann. Schreib ihr einen Brief! Du kannst das doch, das ist dein Beruf.

Ich bin nicht besonders gut im Briefeschreiben. Da täuscht sich Deine Mutter. Es stimmt, ich bin Journalist. Und es ist einfach, einen Reisebericht zu verfassen, eine Restaurantkritik oder eine Meldung über die letzte Gemeinderatssitzung. Wenn du das jeden Tag machst, unzählige Male in deinem Leben, dann kommt es dir vor, als würdest du laut denken, als würdest du herunterschreiben, was dir durch den Kopf geht. Dann liest du es dir noch einmal durch, verbesserst eine Stelle, streichst ein Wort, findest vielleicht einen Fehler.

Wie soll man aber seinem Kind erklären, dass man sterben wird, „freiwillig“, wie Deine Mutter zu sagen pflegt, obwohl es falsch ist. Und, glaube mir, ich habe diesen Brief unzählige Male gelesen, hunderte Male überarbeitet, und ich wünsche mir immer noch, ich hätte bessere Worte gefunden. Die richtigen, die es in einem solchen Fall vielleicht nicht gibt.

Aber ich wollte versuchen, Dir zu erklären, warum ich diese Entscheidung getroffen habe. Sie ist nicht selbstsüchtig – oder vielleicht doch, aber darauf kommt es nicht an. Die Wahrheit ist, dass ich nicht anders kann. Deshalb ist es keine Entscheidung, sondern eine Zwangsläufigkeit, etwas, was weder ich noch sonst jemand ändern kann. Du machst es dir zu einfach, sagt Deine Mutter immer wieder, natürlich kannst du dich entscheiden weiterzuleben, wenn du nur willst. Vielleicht sagt sie das, weil sie mich nicht versteht, weil sie sich nicht in mich hineinversetzen kann, weil sie mich liebt – und Dich natürlich auch.

Vielleicht fange ich am Anfang an. Ich habe schon als Kind schlecht gesehen, und bekam früh eine Brille verschrieben. Du trägst ja auch eine, aber sie steht Dir, sie verleiht Dir diese besondere Ernsthaftigkeit, die ich so an Dir liebe. Ich dagegen habe meine Brille gehasst. Sie hatte dicke Gläser, und meine Klassenkameraden haben mich oft dafür gehänselt. „Da kommt die Eule“, schrien sie und ruderten mit den Armen, als wären sie Flügel, und taten, als sei ich gerade um die Ecke geflogen. So oft es ging, habe ich die Brille abgenommen und saß dann in der Klasse, ohne zu erkennen, was die Lehrer an die Tafel schrieben. „Andreas, ich glaube, du hast ein ernsthaftes Problem mit den Augen“, sagte meine Klassenlehrerin manchmal. „Du solltest zum Augenarzt gehen.“

Tatsächlich war ich Stammgast bei unserem Augenarzt. Er hieß Dr. Weinerth und stand kurz vor der Pensionierung, oder es kam mir so vor, weil er dem kleinen alten Männlein aus dem Märchen von Johann Wilhelm Wolf glich. „Andreas, Andres, deine Hornhaut gleicht einer Achterbahn“, sagte er jedes Mal, wenn er mir in die Augen sah. Es sollte ein Witz sein und doch schüttelte er dabei jedes Mal so traurig den Kopf, dass ich wusste, dass ich ein hoffnungsloser Fall war. In all den Jahren hat er es nie geschafft, die richtigen Gläser für mich zu finden, und ich begann mich vor diesem „so besser oder so besser?“ zu fürchten, dieses ständige Nachfragen, wenn er ein Glas ausgewechselt hatte, und seinem vorwurfvollen „Aber vorhin hast du doch gesagt…“. Warum meine Mutter zu ihm hielt, weiß ich nicht. Es gab viele gute Augenärzte in unserer Stadt, und als Privatpatientin hätte sie zu jedem gehen können. Aber vielleicht tue ich Dr. Weinerth unrecht, und es lag nicht an ihm, sondern an meinen Augen, für die es keine perfekte Korrektur gab. „Du hast nie gelernt, scharf zu sehen“, sagte er einmal, und ich schämte mich dafür, als sei es meine Faulheit gewesen oder ein anderes Versäumnis, das mich fahrlässig in meine hoffnungslose Lage gebracht hatte. Als meine Mutter dann fragte: „Und dafür ist es jetzt zu spät?“, gab er nur ein vages „Hm“ zur Antwort.

Das alles erzähle ich Dir, damit Du verstehst, wie zuwider mir Augenärzte sind, warum ich so lange gewartet habe, einen aufzusuchen, warum es irgendwann zu spät war. Denn meine Krankheit wäre heilbar gewesen, wäre sie nur früh genug entdeckt worden. Wieder eine Schuld, von der ich mich nicht freisprechen kann und die ich auf mich nehmen muss.

Als ich die ersten Sehstörungen bemerkte, dachte ich mir nichts dabei. Ich fing an zu schielen. Besonders, wenn ich müde war, sah ich doppelt. Ich schob es auf das iPad, das ich häufig benutzte, wenn ich meine Texte in die kleine, getrennte Tastatur schrieb, auf den Bildschirm des Redaktionssystems, wo ich die fertigen Seiten der Zeitung durchsah. Doch dann begann es in meinem Gesichtsfeld zu flimmern und zu blitzen. Das machte mir Sorgen. Überarbeitung, Stress, zu hoher Blutdruck, dachte ich. Ich nahm mir eine Auszeit, und tatsächlich wurde es besser. Meine Beschwerden verschwanden sogar ganz.

Ich hatte das Ganze fast vergessen, als es nach einigen Monaten wieder losging. Heftiger dieses Mal. Da gab es halbkreisförmige Strahlenkränze, die mich stundenlang quälten und Stellen im Gesichtsfeld, die mal farbig leuchteten, mal verschwammen und dunkel wurden. Das ging so weit, dass ich nicht mehr schreiben konnte, dass die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwanden oder von einem Leuchtfeuer überstrahlt wurden. Oft saß ich in meinem Sessel, hatte die Augen geschlossen und döste vor mich hin. Ich begann Musik zu hören, etwas, was ich in meinem Leben nur selten getan hatte, weil meine Leidenschaft immer das Lesen gewesen war.

Ich mag Opern und russische Komponisten, volkstümliche Musik, die auch einem Musikbanausen wie mir zugänglich ist. Ich mag Rachmaninoff besonders gerne, und die erste Symphonie ist meine liebste. Hast Du gewusst, dass er sie mit einem biblischen Epigramm überschrieb? „Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.“

Deine Mutter hat Dir sicherlich gesagt, dass ich ein Aderhautmelanom hatte, einen seltenen Tumor des Auges, den es in Deutschland nur wenige hundertmal im Jahr gibt. Am ehesten erkrankt man daran, wenn man zwischen sechzig und siebzig Jahre alt ist, doppeltes Pech also für einen, der gerade dreißig geworden war. Unbehandelt entwickelt er Metastasen und führt bald zum Tod. Früh erkannt, gibt es gute Heilungschancen. „Man versucht die Sehkraft und das Auge insgesamt bestmöglich zu erhalten“, so steht es in den Lehrbüchern. Kleine Tumoren werden mit radioaktiven Strahlen oder Kälte behandelt, größere chirurgisch entfernt. Die Enukleation ist die Ultima Ratio. Ein Begriff, den ich zum ersten Mal hörte und den ich mir gemerkt habe.

Enukleation bedeutet Entkernung oder Ausschälung. Der Augapfel wird entfernt, um eine Ausbreitung oder Metastasierung des Tumors zu verhindern. Das ist schlimm genug, wenn nur ein Auge betroffen ist. Man erhält eine Plombe aus Silikon oder Hydroxilapatit, die durch Bindehautgewebe abgedeckt wird. An dieser Plombe werden die Augenmuskeln befestigt, so dass sich die Augenprothese recht natürlich hin und her bewegt und mit dem anderen, gesunden Auge synchron ist. Dass das Auge blind ist, fällt einem Betrachter nur auf, wenn er sehr genau hinschaut.

Bei mir waren beide Augen betroffen. Fortgeschrittenes Stadium. Einzige Möglichkeit: Enukleation beider Augäpfel.

Viele Menschen werden im Laufe ihres Lebens blind. Und die allermeisten schaffen es irgendwann, damit zurecht zu kommen. Andere sind blind geboren und kennen nichts anderes. Das Leben als Blinder bedeutet Einschränkungen, Mühen, Verzicht. Und man ist auf andere Menschen angewiesen, auf den Ehepartner, auf Pfleger und vielleicht auf einen Hund.

Das Erblinden kommt unerwartet, schleichend oder plötzlich, aber immer ist es unvermeidbar. Du kannst dich weder dafür noch dagegen entscheiden. Bei mir war das anders. Ich hatte die Wahl, blind zu werden oder zu sterben.

Zuerst erschien mir diese Entscheidung leicht. Ist ein langes Leben als Blinder nicht so viel mehr Wert als ein langsamer, qualvoller Krebstod? Und die ersten Tage und Wochen nach der Diagnose, hatte ich keinen Zweifel, dass ich mich operieren ließe. Natürlich musste es schnell gehen, denn jeder Tag, den ich abwartete, vergrößerte das Risiko, dass mein Krebs streute, dass ich trotz OP sterben würde.

In diesen Tagen war ich oft draußen in der Natur, bin spazieren gegangen oder saß auf einer Bank in unserem Park. Es war Frühling und alles stand in Blüte. Ich wollte Abschied von der Schönheit der Farben und Formen nehmen, mir alles noch einmal einprägen, um vielleicht davon zu träumen. Erblindete träumen noch lange von Licht und Farben. Warum das nach einigen Jahren aufhört und auch in ihre Träume die Dunkelheit einkehrt, weiß man nicht.

nach einigen Jahren aufhört und auch in ihre Träume die Dunkelheit einkehrt, weiß man nicht.
Stell Dir vor, Du hast die Wahl zu sagen: „Am nächsten Mittwoch werde ich blind.“ Oder am Donnerstag oder an einem anderen beliebigen Tag, den Du Dir aussuchen darfst. Du legst einen Zeitpunkt fest und darfst bis dahin sehen, danach nicht mehr. Du fährst ins Krankenhaus im Bewusstsein, dass du als Blinder nach Hause kommen wirst. Wann ist der richtige Zeitpunkt, blind zu werden?

Plötzlich wusste ich, dass ich diese Entscheidung nicht treffen konnte, dass ich die Stunde, an der die sichtbare Welt aus meinem Leben verschwände, niemals selbst festlegen können würde.

Den ersten Termin habe ich abgesagt. Zum zweiten bin ich nicht erschienen.

Damals fingen die Gespräche mit deiner Mutter an. Mit jedem Tag, der verging, den ich tatenlos verstreichen ließ, wurde sie verzweifelter. „Du wirst sterben!“ schrie sie mir entgegen. „Willst du das?“ Ich glaube, sie verstand nicht, dass es keine Entscheidung zwischen Leben und Tod war, sondern nur eine zwischen Sehen und Nicht-Sehen. Dass das Sehen den Tod bedeutete, war unabänderlich.

Man kann sich nicht entscheiden, blind zu werden. Das war die Essenz von dem, was ich verstanden habe. Aber vielleicht sollte ich nur für mich selbst sprechen: Ich kann das nicht. Nenne es Feigheit, Verantwortungslosigkeit, Selbstsucht. Deine Mutter hat mir all diese Worte an den Kopf geworfen, und ich schreibe Dir diesen Brief, weil ich möchte, dass wenigstens Du mich verstehst. Du sollst meine Entscheidung nicht billigen, denn dafür gibt es keine Rechtfertigung, du sollst nachvollziehen, warum ich diesen Schritt gegangen bin, gehen musste.

„Warum tust du mir das an?“ sagte deine Mutter manchmal, wenn sie genug geweint hatte. Sie hätte lieber einen blinden Ehemann als gar keinen, und sie ist der Meinung, dass ich sie nicht genug liebe, um auch als Blinder mit ihr zusammen zu sein. Und dann bist noch Du, liebe Laura. Deine Mutter ist erwachsen, sie wird ohne mich auskommen. Niemand ist unersetzlich. Aber wie wird es Dir ohne Vater ergehen? Das ist das, was mich am meisten umtreibt. Es fällt mir unendlich schwer, Dich allein zu lassen.

Laura legte den Brief beiseite. Er endete mit diesem Satz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Der Brief hatte kein Datum und keine Unterschrift, keinen letzten Gruß, nichts, was darauf schließen ließ, dass ihr Vater ihn zu Ende geschrieben hatte.

Dann las sie ihn noch einmal und noch einmal. Sie lag auf dem Bett in ihrem Zimmer und starrte an die Decke. Die Sonne schien honiggelb durchs Fenster. Es war Frühling, der gleiche Frühling wie damals, dachte sie, der gleiche Frühling, den ihr Vater in seinem Brief beschrieben hatte. Von unten, aus dem Wohnzimmer, klang leise Musik herauf.

Ihr Zimmer war groß und ging zum Garten. An den Wänden hingen Poster von Sängern und Fotografien von ihrem Hund Flip, einem Border Collie, dessen eine Kopfseite weiß und die andere schwarz war. Ihr Schreibtisch war mit Heften und Büchern übersäht. Vor kurzem, an ihrem vierzehnten Geburtstag, hatte sie ihre zahllosen Plüschtiere aussortiert und in den Keller gebracht. Mit vierzehn ist man kein Kind mehr.

Im Keller war sie auf den Brief ihres Vaters gestoßen. Sie hatte eine Kiste mit alten Fotos gefunden und schließlich, ganz unten, die vier engbeschriebenen Blätter.

Sie sprang auf und rannte die Treppe ins Wohnzimmer hinunter. „Papa!“ rief sie.

Andreas saß wie üblich um diese Zeit in seinem Ohrensessel, ein Ungetüm, den seine Frau vor einigen Jahren mit einem bunten, gestreiften Stoff hatte neu beziehen lassen. Wie immer trug er eine schwarze Sonnenbrille, wie immer hörte er Radio oder Musik.

Laura sprang ungestüm in seine Arme und drückte sich an ihn. „Was ist los, mein Schatz?“ Er wunderte sich über die Anrede, Papa hatte sie schon lange nicht mehr zu ihm gesagt, und so anhänglich war sie zu seinem Bedauern nur noch selten.

„Was hörst du da?“ fragte sie flüsternd, obwohl sie das Stück längst erkannt hatte. „Die zweite Symphonie von Rachmaninoff“, antwortete er, „mir gefällt sie fast besser als die erste“, fügte er hinzu. „Was meinst du?“ Sie nickte und sagte: „Ja, sie ist wunderschön.“ Dann nach einer kleinen Pause: „Für einen Musikbanausen hast du erstaunlich viel Musikverstand.“

Ihr Vater hätte sie jetzt gerne angesehen und ihren Gesichtsausdruck gedeutet. „Hast du den … Brief gelesen?“ fragte er schließlich vorsichtig. „Welchen Brief?“ antwortete sie. „Nichts“, er entspannte sich, „ich bin nur über den Banausen gestolpert.“ „War nicht so ernst gemeint, Papa. Du bist ein großer Kenner der klassischen Musik, das weiß ich.“ Sie drückte sich an ihn. „Aber Bücher sind auch schön. Ich werde dir etwas vorlesen.“ Andreas lächelte in sich hinein. „Das würde mich sehr freuen.“

Er dachte daran, wie Laura mit sieben oder acht Jahren angefangen hatte, ihm vorzulesen. Es waren Märchenbücher gewesen oder die quadratischen Pixies, und so hatten sich ihre Rollen verkehrt. Nach den Kinderbüchern kamen Jugendbücher, in denen es um Pferde und Hunde ging und um die ersten Schwärmereien. Diese Stunden mit ihr hatte er über alles geliebt. Doch sie waren zuletzt seltener geworden.

„Weinst du?“ fragte er. Er spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Wange. „Papa, es tut mir so leid!“ „Was tut dir leid?“ „Ich wollte dir jeden Tag vorlesen, weißt du?“ „Du musst mir nicht jeden Tag vorlesen, mein Schatz, nur wenn du Zeit und Lust hast. Ich höre dir so gerne zu.“

Sie stand auf und ging zum Bücheregal. „Was haben wir als letztes gelesen?“ fragte sie. „Ich glaube wir waren bei Anna Karenina, noch ziemlich am Anfang, wenn ich mich richtig erinnere“, antwortete er. „Hast du Lust?“ fragte sie. Wieder lächelte Andreas sein stilles Lächeln. Sie setzte sich auf seinen Schoß und schlug das Buch auf.